Startseite

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1:

Die Geschichte des Schotthocks

KAPITEL 2:

Das Leben im Schotthock

KAPITEL 3:

Es ist lange her

KAPITEL 4:

Die Bauern

 

KAPITEL 7:

Gemeinde im Schotthock

 

„Up Dörp"

Als in den Jahren 1905/06 zu der vorhandenen Weberei noch eine Spinnerei auf Walshagen gebaut wurde, war es nötig, für die erforderlichen Arbeitskräfte Wohnraum zu schaffen. Die Werkswohnungen auf Kuba waren voll besetzt. So entschloß man sich, auf dem Sandstück der Bauern Bröker und Pohlmann (Deiters) eine Siedlung zu bauen. Da diese Siedlung von der Fa. Carl Kümpers u. Söhne gebaut wurde (erst 1912 Herrn. Kümpers), war es naheliegend, die Siedlung Kümpersdorf zu nennen. Die Alfredstraße wurde nach Alfred Kümpers benannt. Die Benennungen Roland- und Siegfriedstraße kommen aus der deutschen Sage und haben mit der Familie Kümpers nichts zu tun.

Beabsichtigt war, an der Roland-, Alfred-, Venn- und Siegfriedstraße und am Speller Damm Wohnungen mit etwas Gartenland und einem Schweinestall zu erstellen. Die Wohnungen an der Vennstraße sind nicht gebaut worden; die Straße gibt es heute auch nicht mehr.

Als die Bauten fertig waren, zogen Ostpreußen, Polen und Holländer sowie eigene hiesige Arbeitskräfte ein. Daß es hier anfangs zu Reibereien gekommen ist, kann man sich gut vorstellen. Im Laufe der Zeit aber vertrugen sich Holländer mit Polen und Ostpreußen mit Einheimischen und alle untereinander.

Hermann Kümpers jun. erzählte mir, daß einige Ausländer nach Fertigstellung des Kanals im hiesigen Gebiet geblieben sind. An den Namen der Bewohner konnte man das Herkunftsland erkennen. Namen der Holländer waren z.B.: Stegging, Poelakker, Heckhuis, Uhlenberg, Wameling, Haver, Loerakker; Namen aus den Ostgebieten waren Pedukat, Broschat und Rudat, die der Italiener Rosetti, Lazotta und Toniazzo.

Mit dem Bau der Wohnungen auf Kümpersdorf war ein weiterer Schritt getan, den Schotthock aus der Epoche vorwiegend landwirtschaftlicher Nutzung in das nunmehr beginnende Industriezeitalter zu führen.

Der Bauer des Schotthocks stand diesem Strukturwandel zunächst sehr skeptisch gegenüber, mußte aber erkennen, daß sein karger Sandboden durch diese Veränderungen einen sehr starken Wertanstieg erfuhr. Der Bauer blieb jedoch reserviert, und es ist bekannt, daß einige Landwirte ihren Kindern verboten, im 1910 gegründeten Fußballverein Tubantia mit den Kindern der Arbeiter Fußball zu spielen.

Kümpersdorf wurde in den Jahren 1905/1906 von der Firma Möller auf kargem Sandboden am Stadtwald von Rheine inmitten von Wallhecken, Wiesen und Äckern gebaut. Es war ein Eldorado verschiedener Nationalitäten, Konfessionen sowie persönlicher und politischer Meinungen von Einheimischen und Zugereisten. Allein, in diesem Schmelztiegel der Verschiedenheiten formte sich mehr und mehr ein Teil der Stamm-Mannschaft von Hermann Kümpers.

Tüchtige Meister und Gesellen sowie fachliche Spitzenkräfte hat Kümpersdorf in den folgenden Jahrzehnten hervorgebracht.

Hier auf Kümpersdorf hat man trotz aller Verschiedenheiten von Anbeginn Freud und Leid gemeinsam zu tragen und zu teilen verstanden. Jeder war darauf bedacht, seinen Mitmenschen in einem gemeinsamen Haus und an einem gemeinsamen Arbeitsplatz ein guter Kamerad, Freund und Nachbar zu sein. Die Not der Zeit, der harte Einsatz, den das Leben forderte, haben den Menschen jener Tage geprägt wie einen guten Golddukaten, der auch noch heute Gültigkeitswert besitzt. Eine in allen Lebensbereichen praktizierte Nachbarschaftshilfe war das besondere Bindeglied dieser Dorfgemeinschaft.

Kümpersdorf etwa im Jahre 1909

     

Bei Hochzeiten des Nachbarn etwa wurde der Bogen gesteckt und der Polterabend von alt und jung hervorragend arrangiert. Dabei wurden, nicht wie heute, Scherben und Unrat zersplittert, sondern schöne alte Lieder gesungen.

Überhaupt gehörte das Lied viel mehr zum Leben der damaligen Menschen als heute. Wer denkt nicht gerne an „Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen"? Dieses Lied erklang, wenn ein junger Mann oder ein junges Mädchen von Kümpersdorf wegzog. Spielte dann Heino Bröker auf seinem Akkordeon als Zugabe „Tanzende Finger", war die Stimmung auf ihrem Höhepunkt.

Oder nehmen wir die Karnevalsfeste: Sie wurden immer von ganz Kümpersdorf gefeiert. Ich kann nur über Karneval nach dem Zweiten. Weltkrieg berichten. Wenn beim Frühschoppen Heinz Heckhuis, Hermann Drees und Burte Schoppmann ihr „Sing, Nachtigall sing!" ertönen ließen, dann wurde es ganz ruhig bei Niemeyers Jopp in der Gaststube. Abends wurde in den Katakomben des Kellers weitergefeiert. Am Rosenmontag stieg dann der große Karnevalsumzug. Alt und jung waren dabei. Die Musikkapelle nahm auf dem Wagen Platz, und schon ging es mit Sang und Klang durch den Schotthock.

Poltern bei Stegginks „Grauten Bäind" im Jahre 1962

Die Interessengemeinschaft Frohsinn wurde 1965 konstituiert, um auf altbewährte Weise Frohsinn zu pflegen: Aus dem Nebeneinander der Menschen ist eine Gemeinschaft, ein „Füreinander" geworden.

Aber nicht nur für fröhliche, auch für die ernsten Stunden des Lebens hatte man gesorgt: Eine gutfundierte, stillschweigend geführte Sterbekasse ist bis heute eine feste Einrichtung auf Kümpersdorf.

Auch Spiel und Sport haben die Kümpersdorfer von jeher eifrig gepflegt. War es zunächst der Sportclub „Tubantia" mit einem starken holländischen Einschlag, der über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, so baute sich aus diesen Reihen der BV Rheine 1910 auf. In den 60er Jahren ging der BV erst im FC, schließlich in dem Großverein Vfb Rheine auf.

Somit waren Schotthock und Kümpersdorf eine Zeit ohne Fußballverein. Im Jahre 1983 bildete sich aus ehemaligen BVern der Fußballverein Grün-Weiß Rheine. Man übernahm nicht nur die Farben des ehemaligen BV sondern auch manche durch den Zusammenschluß der Vereine vergessene Tradition, z.B. den Umzug aller Mannschaften am Stiftungsfest durch den Schotthock.

Ernst Kümpers wußte zu berichten, daß bei dem Festakt der feierlichen Übergabe der ersten Häusergruppe auf Kümpersdorf an die neuen Bewohner eine Kindergruppe einen sehr schönen Reigen auf

führte; ein Beweis dafür, daß bereits die damaligen Väter und Mütter ihren Kindern Spiel und Sport nahegebracht und ihnen damit Möglichkeiten zur Lebensgestaltung aufgezeigt haben.

Der Mittelpunkt im Ablauf des Geschehens in der Dorfgemeinschaft war das Konsumhaus. In dem Ladengeschäft gab es die täglichen Verbrauchsgegenstände, und in den Räumen der Gaststätte wurde schon in den 50er Jahren Rolinck-Bier ausgeschenkt. Man konnte sogar „einen an die Latte hauen". Dann blieb der Bierdeckel liegen und wurde erst bei der nächsten Löhnung bezahlt.

Niemeyers Jopp hinter der Theke, in den 50er Jahren

Erster Verwalter des Konsums war von 1907 bis 1928 Heinrich Schleutker. Sicher hatte er es nicht leicht in den Anfangsjahren, alle „unter einen Hut" zu bringen.

Josef Niemeyer war von 1928 bis 1958 der zweite Verwalter des Konsums. Er war eine profilierte Persönlichkeit, die immer für alle das Beste gewollt hat. Seine etwas abrupte, derbe Münsterländer Art, die in ihrer harten Sprache bei „Jopp" einen besonderen Akzent bekam, war nicht immer leicht zu nehmen. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich 1950 bei „Jopp" versuchte, in seinem Laden, der fast alles hatte, ein paar kleine Gardinenstangen zu holen. Ich fragte Herrn Niemeyer: „Haben Sie Gardinenstangen?" Er lauerte über seine Brille und rief laut: „Wie häbbt doch kien Isenladen!" Ich habe erst gar nicht gewartet, was er sonst noch sagte, sondern bin schnell aus seinem Laden gerannt. Seitdem hatte ich vor „Niemeyers Jopp" Angst. Erst später erfuhr ich von meinem Vater, daß Jopp eine rauhe Schale, aber einen sehr guten Kern hatte. Er hat viel im verborgenen getan, was wert wäre, berichtet zu werden. So im letzten Krieg für die Betreuung der Landser und der Familien „Up Diörp".

„Nigrin-Papa" in den 50er Jahren auf' der Rolandstrafe, Werber für Schuhcreme

 

 

Der nächste Verwalter des Konsums war Alfons Stricker. Er übernahm 1958 die Wirtschaft und den Konsum. In den letzten Jahren waren die Pächter Peter Dykstra und Horst Rinke. Der Konsum schloß für immer seine Pforten, als Günter ter Steege im Jahre 1978 das Haus von der Firma Hermann Kümpers kaufte. Aus dem alten Konsum wurde eine Imbißstube; sie besteht aber heute auch nicht mehr. In der Wirtschaft jedoch wird weiterhin das gute Rolinck-Bier gezapft.

Auf Kümpersdorf aber ging das Leben weiter. Durch den Verkauf der Werkswohnungen bei der Schließung von Hermann Kümpers änderte sich das Bild der Siedlung: Viele Leute kauften die Wohnung, in der die Familie seit 50 und mehr Jahren gewohnt hatte, und verschönerten sie. Andere zogen weg; denn nicht alle konnten die Kaufsumme, die zwischen 50.000 und 70.000 DM lag, aufbringen. Viele der ehemaligen Kümpersdorfer zogen zum Röwenkamp, um hier eine Mietwohnung, die vom Wohnkomfort auch besser war, zu beziehen. Heute ist Kümpersdorf ein Denkmal aus vergangenen Zeiten, in der die Textilindustrie zu den großen Erwerbsquellen von Rheine gehörte.

 

WEITER: Bilder